Rose und Brennnessel

Rose und Brennnessel

Johanni, 24. Juni, 3 Uhr Morgens.

Vor zehn Jahren pflanzten wir drei Rosenbüsche vor die Tür. Zwei entwickelten sich prächtig.
Einer, der in der Mitte, darbte Jahr für Jahr vor sich hin. Wenn er überhaupt blühte war er schwarz von Läusen.
Die Brennnesseln, die zwischen den Rosensträuchern wuchsen, entfernte ich.
Es hieß, sie nähmen den Rosen das Licht, und den Wurzeln die Wachstumskraft. 

Mich inspirieren Brennnesseln. Ihr streng gerader Wuchs, ihre kreuzförmige Blattstellung, die verspielten Samenstände im Kontrast zu den speerspitzenartigen Blättern und nicht zuletzt die Abwehrkraft dieser Heilpflanze.
In diesem Jahr ließ ich sie wachsen – und staunte.
Sie wucherten nicht in die beiden herrlich blühenden Rosenbüsche hinein, sondern wuchsen präzise zwischen ihnen, besondern dort – und das bis zu 170 cm hoch – wo der mickrige, mittlere Rosenbusch  – von dem nichts mehr zu sehen war – hockt.

Doch welche Überraschung! Inmitten der hohen Brennnesseln wächst die überschattete Rose langsam und stetig empor. Sie beginnt sich in nie gekannter Pracht und Größe zu entfalten.


Wenn es stimmt, dass die Brennnesseln den Rosen Licht und Wachstumskraft rauben, wäre dies unmöglich.
Sie erweisen sich stattdessen als eine Art straff organisierter Schutzgarde, die das Erscheinen des zart duftenden, lieblichen, vielknospigen Rosen-Stars – eine der alten Sorte – fördernd begleiten.
Diese schöne Rose sitzt nun – mitten in brennenden Nesseln – geschützt, hat noch viele Dornen aber keine Läuse mehr. 

Was für eine subtile, intelligente Kooperation zwischen Rosenbusch und Brennnesseln, die sich dem beobachtenden Aufzeichner als Vorbild von „evolutionärer Tragweite“ zeigt.

Alfred Bast. Brennnessel. Farbstift, Ölfarbe auf grundierter Wellpappe. 49 x 39 cm. 2022.