Beitrag zur Reihe: Coronien … und was es sonst noch gibt.
Zehnter Zehnter Zwanzig Zwanzig
Ich bin im KUNST KLOSTER im Frauenhof, in der Natur, und da auf der Innenseite der Welt – im Atelier.
Der Tisch liegt voller Kastanien. Sympathische Geschenke, die beim Spaziergang direkt vor die Füsse kullerten.
Ich möchte diese natürlichen Kostbarkeiten auch in Coronien, wo der besorgte Blick gebannt auf „steigende Fallzahlen“ (… was für ein Wort! ) gerichtet ist, nicht übersehen. Von den Bäumen fallen zurzeit nährende, schöne Früchte – in steigender Zahl, aber nicht endlos. Das macht Hoffnung, auch für „steigende Fallzahlen“.
Immer wieder – neu
Jahr um Jahr entfalten sich langsam aus den braunen, glänzend-klebrigen Knospen, die formal und farblich ihren späteren Früchten ähnlich sehen, himmelwärts öffnende Blütenkerzen. Nach ihrer Befruchtung fallen die schönen Einzel-Blüten ab und summieren sich zu weißen und roten Teppichen unter ihren Bäumen.
Die verbleibenden kleinen, unscheinbaren Fruchtknoten gedeihen über den Sommer hinweg schließlich zu gewichtigen grün-braunen Stachel-Kugeln, die jetzt im Herbst von ihren Bäumen hageln. (… hageln? … ja das ist schon das richtige Wort. Ich stand vor ein paar Tagen bei starkem Wind nahe dem Baum, da hagelte es Kastanien.)
Bäume sind Lebewesen und große Umwandler. Das wissen wir, doch es sei hier kurz noch einmal erinnert. Durch die Photosynthese produzieren sie unter anderm auch Sauerstoff den wir zum Atmen brauchen.
Ohne Bäume gäbe es uns nicht. Unser Dasein ist mit ihnen unmittelbar verbunden. Jenseits unseres Bewusstseins ermöglichen sie das Leben auf der Erde, erzeugen die Luft und reinigen sie. Sie produzieren viel mehr als sie selber brauchen. Von ihrem Sauerstoff, ihren Früchten, ihrem Holz, ihrer Schönheit leben wir. Ihre äußere, verzweigte Gestalt findet in unserer Nerven- und Blutbahnen innige Resonanz.
Die natürliche Umwelt, der Luftraum, ist ein einziger großer, unteilbarer Körper innerhalb dessen wir uns bewegen, wie die Fische im Wasser.
Die Natur
Die Natur repräsentiert jene universelle Intelligenz, die auch den menschlichen Verstand hervorbrachte, und dessen Begrenzungen und Konditionierungen meist weit übersteigt.
Diese universelle Intelligenz manifestiert sich als sichtbare Natur, die in Gestalten und Prozessen spricht. Sie kann den aufmerksamen, empfangsbereiten und ausgerichteten Verstand geistig inspirieren.
Die Natur anschaulich zu befragen, mit ihr in einen Dialog zu treten, lädt das interessierte Bewusstsein zum Deutungsspiel ein. Tiefe Einblicke in die strukturierenden Kräfte, die die Formen hervorbringen, das fließende Farbenspiel als Ausdruck der Lichtwirksamkeit, und nicht zuletzt die Verwandtschaft mit dem eigenen Erleben das sich darin widerspiegelt, machen diese Wahrnehmungsarbeit zu einem unerschöpflichen Brunnen an Einsicht und Erkenntnis.
Hier zum Beispiel durch die Kastanie.
Extreme
Welche Extreme in einer Gestalt! Die stachelig pieksenden Kastanienkugeln, die sich kaum in der Hand halten lassen, im Kontrast zu dem was sie bergen: braune, glänzende Handschmeichler die aus ihrem samtweichen, hellen frischen Bett heraus kullern … direkt in die Augen Herzen und Hände der Kinder … und auch zu alten, geprüften, sich mühsam bückenden Menschen, in denen sich das Kind-Sein fern wie ein Zukünftiges erinnert.
Sind Kastanien nicht so eine Art Spielmurmeln der Natur? Sie besänftigen schon durchs bloßes Anschauen, und strahlen handfestes, kerniges Vertrauen aus. Auch wenn die Kastanien bald nachdem sie „geschlüpft“ sind, ihren Glanz verlieren mögen, so tragen sie, wie alle Samen, doch das Potenzial eines ganzen neuen Zyklus in sich.
Es beschert mir Freude sie einzusammeln, trotz „Rücken“. Unglaublich, kaum zu glauben, was sich da alles „aufglauben“ (schwäbisch: für aufheben, oder aufsammeln) lässt.
So kullern sie weiter auf den Ateliertisch. Den nenne ich gerne etwas pathetisch: „Altar der Achtsamkeit“, oder „Labortisch der Wahrnehmung“ auf dem sich das Selbstverständliche, Naheliegende einfindet, wie jetzt die Kastanien, die mich spontan zu dem einem kurzen Zeichen-Video inspirierten.
( … eingefügt am Ende des Werk-Briefes.)
Weiter ist es faszinierend zu beobachten, wie sich zum Beispiel langsam eine geschlossene Stachelkugel über einige Tage hinweg, ohne äußere Einwirkung öffnet und ihren glänzenden Inhalt frei gibt. Seltsame kleine Drachenmonsterchen erscheinen da.
Innere Organisation
Im Inneren des Stachelpanzers hat sich über den Sommer langsam die sanfte, braue Kastanie ausgebildet und zugleich das weiche, weiße Bett in dem sie ruht. Woher weiß die Substanz, dass sie sich hier in eine weisse Haut und dort in einen brauen Kern entwickeln soll? Eine Frage die für alles gilt was sich organisch entwickelt. Klar: das ist genetisch bedingt. Schon … aber welche Intelligenz entwarf den Bauplan für die Gene?
„An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen“ (Matt. 7,2)
Also schauen wir mal was wir zu sehen in der Lage sind.
Da hat sich die Substanz im Laufe des Sommers innerlich sortiert, ist einem klaren Plan gefolgt, und ich sehe sich eine stachelige Kugelform am Baum entwickeln. Wenn der Plan erfüllt ist, hat die spitzige Schutzhülle ihre Aufgabe erfüllt. Die stachelige harte Schale öffnet sich von selbst. Sie gibt frei was sie lange geschützt hat.
Schutz und Öffnung
Dieser kontrastreiche polare Prozess von Schutz und Öffnung spiegelt sich am offensichtlichsten beim Ei wider. Eine der schönsten und perfektesten aller natürlichen Formen wird, wenn die innere, schutzbedürftige Entwicklung abgeschlossen ist, ihre edle Hülle sprengen, damit das innerlich Gereifte die nächsten Lebensstufe betreten kann.
Sollte die Schale nicht aufbrechen, wird der einstmalige Schutz zum tödlichen Gefängnis. Zwar bewahrt die Schale dann noch ihre Form, doch hindert sie die weitere Entwicklung und verliert, trotz Selbsterhaltung ihren Sinn, weil die „Form gewahrt wird“ auf Kosten der Lebendigkeit.
Solche formalen Erstarrungen finden sich in allen Kulturen, Religionen und politischen Systemen, aber natürlich auch im individuellen Festhalten an gewohnten Formen.
Wobei ich in der Natur keine Rivalität zwischen schützender Form und deren Aufbruch, wenn die Zeit gekommen ist, beobachten kann.
Wie wundervoll ist die Balance zwischen der Schutzform und ihrem Aufbruch bei den Kastanien zu beobachten.
Das, zum Beispiel, kann ich von ihr lernen, dass ein Aufbruch zwar die bekannte und vertraute Form auflöst, doch hat das seinen Grund darin, dass sich aus der alten Form etwas Neues entwickeln will. Sich diesem Prozess anzuvertrauen und hinzugeben, in der Gewissheit dass es da stimmig weitergeht, auch wenn es Unbekannt ist was kommt, davon lasse ich mich von dem Kastanien auf meinem „Altar der Achtsamkeit“ belehren.
Entelechie
Auch die Arbeit im Atelier, und das Verfassen dieses Werkbriefes, so meine ich erkennen zu können, folgt denselben Regeln.
Die feinen Dynamiken eines ersten Impulses, einer Idee, oder Gedankens, differenzieren sich. Sie gedeihen nach einem inneren noch unbekannten Plan, der sich mit jedem Schritt präzisiert.
So reichern sich im weiteren Verlauf immer konkretere Gedanken-Formen und nuanciertere Bedeutungs-Farben an und formieren sich auf ihr Ziel hin. Das Entstehende vernetzt sich mit vorhandenen Kontexten und erkennt, durch das Gestaltwerden, nach und nach seinen Sinn aus sich selbst: Entelechie wird das genannt. Entelechie ist auch ein Begriff für den kreativen, schöpferischen Prozess.
Der immanente Plan äußert sich durch den Werk-Prozess. Das ist auch eine Frage der kontinuierlichen Reifung die ihre Geschwindigkeit selbst bestimmt. Zu rasches Fertigwerden entwickelt keine Kernkraft. Es würde vielleicht eine kurzfristige, selbstgefällige Attraktion. Doch diese nährte nicht den Sinn, und hätte letztlich keinen Bestand, keinen Kernimpuls der zu Weiterem anregte.
Der schöpferische Prozess
Der schöpferische Prozess, auf der Basis erworbener Fähigkeiten, ist immer auch ein Wagnis ins Unbekannte. Die Führung beinhaltet Unsicherheit als natürliche und notwendige Vorsicht, wenn neues Gelände erkundet wird.
Achtsamkeit ist gefragt, auch wo es so gesichert und bekannt erscheint.
Doch nicht nur um Gefahren auszuweichen, sondern vor allem auch, um inspirationsbereit zu sein, und feine, neue Impulse aus den scheinbar Bekannten zu empfangen, damit diese, wenn sie in den Nebelkammern des Gehirns kurz aufblitzen, nicht in routinierter Warhnehmungs-Verarbeitung verschwinden.
In solchen innerlich hochgestimmten Zuständen und Stadien ist Schutz, zum Beispiel als ungestörtes Umfeld, notwendig und förderlich, um im Gewahrsein komplexer, innerer, störbarer Prozesse die Orientierung und Ausrichtung zu bewahren.
In dieser Phase wirkt die Außenseite meist verschlossen, wenig kommunikativ, unzugänglich und manchmal stachelig. Kritik von Außen in diesem Stadium muss mit spitzen, empfindlichen Reaktionen und Abweisung rechnen. Denn der innere Werde-Prozess ist heikel, riskant und selbst kritisch genug.
Es verlangt Fingerspitzengefühl im Umgang, auch mit sich selbst, um solche Entwicklungen in ihrem eigenen Tempo durchzuführen und durchzuhalten. Das braucht einen geschützten Raum, damit sich die ursprüngliche Motivation nicht in tausend appetitlich blinkenden Ablenkungen verliert und aufsplittert.
Was ist diese ursprüngliche Motivation?
Schwer zu sagen: vielleicht die Liebe? Die Liebe zur Sache, oder zu dem was ist, WAS EINFACH DA IST.
„Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Das ist die Frage.“ (Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik. 1935)
Sich diesem langsamen, gründlichen Ateliergeschehen mit Haut und Haaren – das meint: mit Ausdauer und Präsenz – zur Verfügung zu stellen ist eine spezielle Übung in ungeduldiger Zeit, die dazu verführt rasch und unreif zu ernten und zu „posten“. Um dabei zugleich oft maskenhaft Erstarrtes, sterotyp zu wiederholen und zu verbreiteten, als würde es, nach dem Gesetz der Masse, wahrer wenn es mehr vom Falschen gäbe.
Im Innern der Natur
Wie gesagt: Die Natur spricht in Gestalten und Prozessen.
Dieser Werk-Brief ist meine Übersetzung und Interpretation in Wort- und Bildsprache … eine von vielen möglichen.
Fühlt es sich im Inneren der Natur, wie auf der Innenseite der Welt – im Atelier an? Wenn sich dann die Ateliertüre öffnen würde , vielleicht auch in Form dieses Werk-Briefes aus Coronien, um die Ergebnisse eines komplexen, und manchmal stacheligen Prozesses mitzuteilen, die nun digital dechiffriert, sich dann auf deinem oder Ihrem Bildschirm neu zusammenfügen, und heraus kullern wie Kastanien?
Ich prüfe das und frage die Natur. Sie antwortet mit:
„SEIN IST WANDLUNG„
So geht der schöpferische Dialog, das Wahrnehmungsspiel in vielen verschiedenen Formen und Farben: nusshart, traubenrund, kastanienbraun, quittengelb, apfelrot, birnengrün und pflaumenblau – unerschöpflich weiter.
Und es gibt sicherlich eine zweite, dritte und vierte Welle im Ozean des Seins. Die können wir in diesem Kontext auch „Jahreszeiten“ nennen.
Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß,
Und daß du nie beginnst das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immer fort dasselbe,
Und was die Mitte bringt ist offenbar,
Das was zu Ende bleibt und Anfangs war.
(J.W.v.Goethe, West-östlicher Diwan, Buch Hafis, Unbegrenzt)
Einen zuversichtliche Herbstzeit wünsche ich dir / Ihnen.
Alfred Bast, KUNST KLOSTER art research
PS.
Die Rosskastanie ist eine Heilpflanze. Im neuen Buch von Roger und Hildegard Kalbermatten: „Psyche des Menschen und Signatur der Heilpflanzen“, das 2020 im AT-Verlag erschienen ist, wurde der Rosskastanie ein geistreicher Beitrag gewidmet.
PPS.
Kleiner praktischer Nachtrag: ich habe gehört und dann gelesen, dass Ross-Kastanien viele Saponine (das sind seifenartige Eigenschaften) haben, und sich deshalb als Bio Waschmittel bestens eignen.
300 ml Wasser. 5-8 geschälte und kleingeschnittene Kastanien zugeben.
8 Stunden ziehen lassen. Absieben und das Waschmittel ist fertig.
Das habe ich gemacht, fühlt sich stimmig und gut an.