Das Ei
… mEin Aufbruch-Erlebnis bei Peter Grau
Im zweiten Semester an der Kunstakademie in Stuttgart schlug mir der Nachfolger von Professor Gerhard Gollwitzer, Professor Peter Grau, vor: „Zeichnen Sie ein Ei, ein weißes Ei auf weißem Papier mit Bleistift.“
Ich war empört über diese biedere Fleiß-Aufgabe. Das war für den langhaarigen Revoluzzer eine arge Zumutung. Trotzig nahm er – zum Glück, wie sich später herausstellte – die Herausforderung an, und zeichnete ein weißes Ei auf weißes Papier. Ich wollte es Peter Grau, der mich einmal seinen „Lieblingsfeind“ nannte, zeigen. Doch das Ei zeigte es mir.
In meiner engen Studentenbude unter dem winzigen Fenster lag also ein schlichtes, weißes Hühner-Ei auf weißem Papier, bereit zeichnerisch ausgebrütet zu werden. Mit Erwartung präpariert war auch das weiße, glatte Zeichenpapier nach über 50 Jahren ist es vergilbt. 2!
Ich legte die Ei-Zeichnung größer an als das Original. Mit winzigen graden Einzelstrichen – bei Bleistiftstärke 4 H bis 8 H – wollte ich die Quälerei des Abzeichnens, ohne wischen und radieren, stoisch absolvieren.
Die vermeintliche Fleißarbeit, die nicht im genialen Nu – zwischen Lust und Laune – zu bewältigen war, sondern Distanz, Kontinuität, Arbeitsrhythmus und langen Atem erforderte, verwandelte sich beim Zeichnen unmerklich in Faszination und Staunen. Ich zeichnete, zeichnete, zeichnete, wie in Trance. Es eröffneten sich unbekannte überraschende Wahrnehmungserlebnisse mit nachhaltigen Folgen.
Durch den Zeichenprozess wuchs das Motiv langsam aus seinem gewohnten, gedeuteten Kontext heraus. Das Ei wandelte sich vom begrifflich identifizierbaren Objekt – ist ja bloß ein Hühnerei – zum offenen Phänomen, zum Wunder im Vertrauten.
Ich lernte in dieser Ei-Zeit, die weder Stunden noch Tage zählte, Grundsätzliches über Licht und Schatten. Das Licht auf dem weißen Ei war die hellste Stelle. Dem konnte nur das Papierweiß entsprechen. Um dieses Papierweiß in Licht zu verwandeln musste die Umgebung, mit feinsten Nuancen und Übergängen durch die Verdichtung der winzigen Bleistiftstriche dunkler werden … und dazu die Bogenspannung der Eiform.
Noch nie hatte ich zuvor ähnlich differenziert und intensiv das Sehen als Entdeckungsreise erlebt. Als das Gegenteil von langweiliger Fleißarbeit erfuhr ich auch die dramatische Dimension von Geduld und Ausdauer. Wenn ich hinausschaute, sah ich EIN, wurde EINSICHTIG. (Einsicht bedeutet Sehen bis zum Grund). Die Ei-Sicht wurde zur Einsicht und schließlich zu meinem EiSprung. An der geschlossenen Eiform brach mir das Sehen auf.
Das Motiv motivierte mich. Das schlichte Hühnerei steigerte sich zum Archetyp und Lebens-Symbol – was es ja auch ist – und offenbarte das grandiose Zusammenspiel polarer Kräfte: Schutz & Aufbruch, Fragilität & Stabilität, Schönheit & Zerstörung, Gesetz & Chaos. Das Ei ist die perfekte Kugel mit einer Tendenz, ist Vollkommenheit mit einer Richtung – Evolution pur – im schönsten, klarsten und sinnreichsten kosmischen Design.
Die Gestalt des Eis wurde durch das Zeichnen transparent für die unsichtbaren Energien die es bildeten. Diese zeichnerische Durchdringung des Sichtbaren steigerte sich zur handelnden Meditation, zur Kommunikation zwischen Natur-Objekt und Zeichner.
Das Sichtbare, üblicherweise in begrifflichen Deutungen festgezurrt, entpuppte sich, zeigte sein Geheimnis und wurde ein DU, bereit zum unerschöpflich schöpferischen Dialog, bis heute. Dank – Peter Grau.
A.B. Frauenhof, 3. 4. 2022
BILDERDENKEN.. Mischtechnik auf Leinwand. Ausschnitt. 2022.