Werkbrief im Oktober 2022
… fliegen Pilze?
Bin wieder mal im herbstlichen Zeichen-Mal-Wonne-Stress – durch diese erbarmungslose Fülle von Farben und Motiven. Zum Beispiel Pilze. Besonders Fliegenpilze … fliegen Pilze? Ich fliege jedenfalls auf sie.
Ohne dass ich sie koste, wirken diese roten Augenfänger mit ihren hellen Punkten schon durch ihre Erscheinung halluzigen auf mich.
Im Wald
Ich kenne einen Platz, an dem sie ihre jährlichen Waldkonferenzen abhalten. Auch heuer sind sie wieder am konferieren. Keine Frage: Sie sind die markanteste Pilzgruppe – mit spezifischen Eigenschaften. Andere Pilzsorten sind auch noch da. Essbare. Ungenießbare. Weitere giftige. Unbekannte. Ich suche allerdings nicht für die Pfanne oder ein Drogen-Experiment, sondern für das Atelier, um dort – mit nüchterner Wahrnehmungsleidenschaft – ein Pilz-Bild zuzubereiten. Es ist zum Staunen, wie sich die Pilze – entsprechend ihrer jeweils unterschiedlichen Art – aus dem Boden formen. Besonders mit Tintlingen und Fliegenpilzen arbeite ich schon seit Jahren zusammen.
Pilze seien die größten Lebewesen der Erde, heißt es. Ich sehe sie nicht gegen andere Pilzarten, kämpfen. Erkenne ich das nur nicht, oder sind sie tatsächlich zu etwas fähig, womit wir Menschen uns so schwertun: Kooperation? Kooperation nicht nur mit Verbündeten gegen gemeinsame Feinde, sondern Kooperation mit dem Ganzen, das letztlich für alles Leben förderlich ist?
Längst erscheint mir die Natur in ihrem ausbalancierten Zusammenwirken und ihrer Kooperationsfähigkeit dem hochbewerteten menschlichen Intellekt um Weltzeitalter überlegen – dem es offenbar nicht gelingt, zuverlässig über eine dreist-arrogante Selbstbehauptung hinauszukommen, und der stattdessen immer wieder in eine meist banal-brutale individuelle und kollektive Egozentrik zurückfällt.
Pilze wachsen weitgehend unabhängig von all dem, was in der Quoten-Medien-Menschen-Welt passiert. Aber nicht ganz. Sie können zum Beispiel giftige Chemikalien und Strahlungen aus dem Boden aufnehmen, speichern und diesen dadurch reinigen.
Lange betrachte ich die Pilz-Versammlung, bevor ich einige vorsichtig pflücke. Wortlos – über Gedankenfunk – vermittle ich ihnen, dass ich sie bewundere und im Atelier malen will. Es ist mir ernst, auch wenn ich weiß, dass das aus einer bestimmten Sichtweise lächerlich wirkt. Doch in so einem Pilz offenbaren sich geheimnisvolle Gestaltkräfte von Erde, Himmel und Kosmos. Davor habe ich Respekt und zudem geht es mir darum, diese lesen zu lernen, denn die Natur spricht in Gestalten.
Diese Sprache wird ohne Übersetzung international verstanden, und ich bin seit vielen Jahren dabei sie zu erforschen und zu begreifen:
zwecks Selbst-Bildung durch Bilder,
zwecks Entdeckung der Innenwelt durch die Umwelt,
zwecks Einsicht ins Gewebe des Lebendigen,
zwecks Sinngewinn durch die Sinne,
zwecks energiereicher Nahrung durch Schönheit und Freude,
zwecks Kooperation mit dem Ganzen.
Im Atelier
Vor Ort im Atelier: die Farben, das Formenspiel näher erkunden, den Zauber, das rote Geheimnis, mit Augen und Händen begreifen, erspüren. Das, was sich nach und nach dem Sehen öffnet, verdichte ich zeichnend und malend zum Bild. Wird es diesem Wunder entsprechen? Wird es gelingen?
Fotografie
Wozu eigentlich die Mühe? Das Foto macht das doch – wozu noch malen? Stimmt!
Ich fotografiere gern. Vor allem Arbeitsplätze und temporäre Situationen im Atelier. Die Fotografie ergänzt sehr gut, sie ersetzt das begreifende, spürende Sehen mit den Händen jedoch nicht.
Das Auge sieht das Ganze im Nu. Die Hände wittern eine Spur vom Sichtbaren ins Verborgene und verfolgen sie. Sie ertasten, erfassen, begreifen und zeichnen nach und nach auf – schneckenlangsam. So antworten sie auf die Natur, die in Gestalten spricht.
Das Malen
Dies ist ein Akt des bewussten, tätigen Sehens, eine Übersetzung des Sichtbaren durch einen Erlebnis- in einen Erkenntnisprozess.
Das schreibe ich immer wieder von Neuem, es ist immer wieder von Neuem gültig.
Das Gehirn feuert, erzeugt kontemplative Konzentration. Geistloses, unachtsames, herzloses Abmalen lassen die Dinge der Natur nicht zu.
Altar der Wahrnehmung
Das ist meine Arbeit am Altar der Wahrnehmung, um im Sichtbaren das Unsichtbare zu entdecken und dies im Bild erlebbar werden zu lassen. Denn so ein Fliegenpilz ist auch eine visuelle Partitur aus der göttlichen Werkstatt, die es werkgetreu zu erfassen und zu spielen gilt. Dabei wird das gemalte Bild seinem Vorbild ähnlich. Es wird zum Sinnbild und hat den nährenden Gehalt eines unsichtbar wirksamen geistigen Urbildes in sich, der – durch Betrachtung – freigesetzt werden kann.
… Ich komme einfach nicht über die Natur hinaus, sondern immer tiefer hinein.