13. April 2020. Werktagebuch.

Mahabilipuram. Mischtechnik auf Papier. 30 x 40 cm. 1993.

Es ist 6:30.
Über dem rauschenden Meer kündigt sich strahlend die Sonne an. Die Palmen knattern im Frühwind. Schon ist es heiß.
Morgen, am 14. April, so steht es in meinem Kalender, wird meine Ausstellung in der Aurodhan Galerie in Pondicherry eröffnet. Titel:

BASE – DIVERSITY – KREATIVITY the daily gift 
Grund – Vielfalt – Kreativität – das tägliche Geschenk.

Die noch in Deutschland gemalten „Bilder für Indien“ hängen schon.
„YOU ARE FIRST“ war das erste aus der Reihe.

YOU ARE FIRST. Mischtechnik auf grundieren Leinen. 45 x 55 cm. 2020.

Mühelos kann ich mir dieses Szenario vorstellen. War ich doch mehrfach im Park-Guesthouse, dort in Pondicherry vor Ort.
Jetzt bin ich hier. In „Aller-Herrgotts-Früh“ um 3 Uhr. Im Wald-Atelier, über dem die Sterne leuchten, und arbeite am heutigen „Früh-Werk, meiner gedanklichen Bildhauerarbeit.

Sieben Bilder hatte ich bereits gemalt als die Grenzen geschlossen, und die Welt zur „Coronischen Provinz“ wurde.
Für die Ausstellung waren nicht nur fertige Bilder vorgesehen, sondern auch die tägliche kreative Präsenz, wie sie in den Reclam-Werkbüchern ihren Ausdruck findet. Das sieben-Jahre-Projekt sollte mit Buch 44 in Indien abgeschlossen werden.

Kreativität

Kreativität ist die lebendige Antwort auf die permanente Umwandlung von Problemen in Lösungen. Dabei werden feindliche Gegensätze als nötige Bestandteile eines größeren Ganzen erkannt, so wie Plus- und Minuspol im Magneten. Die zweipolige Spannung erzeugt das Feld der Kreativität. Das ist mit einer Gitarrenseite vergleichbar, die an zwei Enden befestigt sein muss. Eines ist fix, das andere variabel um die Spannung zu regulieren. Wird sie überspannt reißt die Saite. Zu lasch gibt sie bloß einen dumpfen Klang. Nervenstränge haben dazu eine gewisse Verwandschaft. Wenn sie etwa zum zerreißen gespannt sind, oder entnervt ihren Klang verlieren.

Kreativität ist als alchemischer Prozess erfahrbar, in dem das kalt lähmende Blei der Stagnation in ein kraftspendendes warm-pusierndes Gold von Zuversicht und Vertrauens verwandelt werden kann. Wenn der Weg der sich im Gehen bildet, beschritten wird.

Die tägliche Kreativität realisiere ich nun im KUNST KLOSTER art research im Frauenhof. Das Blog-Werktagebuch wird zu einer neuen Form der Mitteilung und Ausstellung. Wen immer es interessieren mag. Der Zugang und Eintritt ist frei.

Indienbuch. Pasiflora. Tempera auf Papier. 1974.

Gewiss hätte ich auch Blumen in der Ausstellung gezeichnet. Ich sehe sie vor mir – imaginär in Zeichnungen und Bildern aus früheren Arbeitsaufenthalten in Indien.

Blüten – Früchte des Lichts. Wandinstallatin mit Blüten-Zeichungen. Ausstellung Kunstforum WELEDA. 2001.

Wiesen-Sonnen

Und ich sehe sie vor mir – tatsächlich – in der Mittagszeit des warmen Oster-Sonntags, die Löwenzahnblüten.

Diese Fühlings-Pflanzen in den Wiesen, mit ihrem reinen, leuchtend gelben Sonnenkopf … Gelb. … Gelber gehts nicht.
Schon oft habe ich sie gemalt, gezeichnet, studiert, wie so vieles in der Natur.
Gewiss war es unvermeidlich dabei einiges zu lernen. Doch worum geht es?

Indienbuch. Meister und Schüler. Tempera und Schrift auf Papier. 1974.

Formenkanon
Es war in früheren Malschulen üblich, dass die Formen der jeweiligen Bild-Themen auswendig gelernt und innerhalb der Schulen tradiert wurden. Bei den wundervollen Buchmalereien, Miniaturen und Ikonen waren Naturstudien nicht üblich.
Eine direkte Verbindung zwischen Natur und Fromenkanon schuf der große japanische Zeichner und Holzschneider Hokusai. Er hat unmittelbar aus aus der komplexen Naturerscheinung visuelle Vereinfachungen gemacht, ähnlich wie Comics. Die Mangas, diese aktuelle japanische Zeichenkunst, könnte ihre Wurzeln bei ihm haben.

Die Macht der Projektion. Comic. Aquarell und Schnur auf Papier. 21 x 30 cm. 1967.

Comic


Auch Walt Disney und andere, wie der Asterix-Zeichner Uderzo, reduzierten die komplexen Naturgestalten genial auf möglichst einfache Charakteristiken, die dann ihrerseits wieder in Szene gesetzt werden konnten. Das entwickelte sich bis zu den unglaublich differenzierten Animationen und Zeichentrickfilmen. Ach! … wenn die Inhalte dieser Werke doch ihrem technischen Niveau entsprächen.
Ich bewundere diese Zeichner und ihre Erfindungen, und bin von ihrem Können höchst beeindruckt. Es gab eigene frühe Erkundungen in dieser Richtung. Wie dieses Comic von 1967. „Die Macht der Projektion“. Parallelen zu heute sind rein zufällig.

Indien-Werkbuch 2005.
Werkgruppe Blütenbilder. Mischtechnik auf Tuch. 60 x 80 cm. 2005

Natur

Doch mich hat schließlich die Anschauung und Durchdringung der sichtbaren Natur mehr fasziniert und inspiriert als die Entwicklung einer Comickfigur und eines eigenen Stils. Wobei das kein pauschales Werturteil ist. Es gibt großartige Künstlerinnen und Künstler die das verwirklichen.  

Mich hat eben die Natur „erwischt“. Dort wo ihr bloßes Abbild eine Tür zum Urbild ist, die sich zum Sinnbild öffnet. 
Dort wo sie sich wandelnden Gestalten aus-spricht und lehrt. 
Dort wo sie über-sehen wird.
Dort wo sie dir vor zu Füssen liegt, als Steine, abgefallene Aste, als Gräser, Blumen und Früchte.
Dieser jährlich sich erneuernde nahrhafte Formenschatz der Erde und des Himmels, diese Einmaligkeit in der Weite des Universums, hat es mir angetan. 

Blüten-Werkbuch. 2001-2005.

Einsichtig


Ich wurde nach und nach„ein-sichtig“.
Sah in den vielfältigen Gestalten ihren einheitlichen, unsichtbaren Grund, aus dem sie stammen, den sie ausdrücken, und von dem sie genährt werden.

Ostersonntag-Arbeitsplatz. Buch 44. Mischtechnik auf Papier. 10,5 x 19,0 cm. 2020.

Die Lehre der Blumen


Ich lerne vom Ei, von der Astgabel und, ich schrieb es schon, meinen Gurus den Blumen. 

Was lehren sie? 
– Die Einheit der Gegensätze durch Schönheit.
– Gesetz und Freiheit und die Intelligenz der reinen Natur.
– Hingabe und Mut. (Um nur drei Lektion zu benennen.)

Sie lassen sich mähen, pflücken, züchten, und kommen, trotz dieser Erfahrungen jährlich wieder. Jede Pflanze zeigt die Richtung, wächst als  AXIS MUNDI gibt zwischen Himmel und Erde und bildet Blüten –  Früchte des Lichts.

Deshalb will ich die Natur-Formen, die sich mir zeigen, nicht in eine visuelle Formel fassen, über die ich dann verfüge. 
Stattdessen erforsche ich zeichnend immer wieder neu, was ich beim unmittelbaren Anschauen staunend erlebe:
Wie jetzt hier dem Löwenzahn, diese gelben Sonnenwunder in den grünen Wiesen. Das sind doch gelbe lebendige strahlenblättrige Membrane, Sonnengedichte, die Licht empfangen und Schönheit ins Auge (des Malers) senden. 

Singularität


Ist in diesen gelben Sonnen nicht die Singulariät, der Ursprung des Universums visualisiert? (Als Singularität bezeichnet man in der Physik und Astronomie Orte, an denen die Gravitation so stark ist, dass die Krümmung der Raumzeit divergiert, umgangssprachlich also „unendlich“ ist. Wikipedia).

Ich schaue und zeichne die Blume. So lange bis sie zurückschaut.

Ja ich weiß:.das Auge des Gärtner sieht im Löwenzahn noch was anderes. Und der Heilkundige auch. 

„Gelb-Füssler“