Pfingstwerkbrief / Wildrosen an der Ampel

Bild: Alfred Bast. Rosenblüte. Mischtechnik auf grundiertem Tuch. Ausschnitt. 150 x 50 cm. 1993.

Pfingstwerkbrief. 21. Woche. Berlin

Wildrosen an der Ampel

Um die sechsspurige Yorckstraße zu überqueren müssen weibliche, männliche, kindliche, eingeschränkte, tätowierte, vermummte, kopfhörende, rollstuhlfahrende, und kinderwagenschiebende Fussgänger über zwei Ampeln gelangen. Diese sind grade so geschaltet, dass es bei Grün nur die Sportlichsten auf einmal über beide Fahrbahnen schaffen. Die andern müssen warten. Zwischen den beiden dreispurigen Straßen befindet sich ein breiter Grünstreifen, den vor allem Hunde-Frauchen und Hunde-Herrchen kennen.

Die Aufmerksamkeit ist auf die stark befahrene Straße mit Autos und Radfahrern gerichtet. Alle starren auf die Ampel, auch ich, wann endlich das grüne Gehmännchen erscheint, damit dieses ausgebremste Wartenmüssen, diese Stockung in der Hektik, aufgehoben wird und es weitergeht, weiterhastet … wohin auch immer. Alle die an der Ampel stehen, aus welcher Nation sie auch kommen, welcher Religion sie auch angehören, wie alt oder jung, beweglich oder unbeweglich sie auch sind, haben ein gemeinsames Ziel: über die Straße zu kommen. Diese merkwürdige tief unbewusste Verbindung erzeugt – im brummenden Getriebe der Stadt – einen surrealen Moment von Gemeinschaft.

Es ist ein sonniger warmer Nachmittag. Ich bin, wie alle Straßenmittüberschreitende, auf diesen Warten-auf-Grün-Vorgang fokussiert, da blickt mich etwas aus dem Gebüsch des Grünstreifens zwischen den Straßen an.
Ein Wildröschen zwinkert herüber. Niemand achtet darauf. Offenbar meint es mich.
Ich bleibe stehen, lege meinen Rucksack mit Lebensmitteln ab und mache diese beiden Fotos. Leise und kostenlos ist seine Botschaft. Es hat keinen QR-Code.

Vieles ist laut und grell in der Stadt und sucht sich darin zu überbieten. Werbeplakate und Graffitis an den Mauern zeigen diese Tendenz: je größer und greller, desto mehr Aufmerksamkeit. Scheinbar … ja, scheinbar. Denn das Laute und Größte, das Stärkste und Schrillste erweist sich oft nur als Blähung. Das repräsentiert bei weitem nicht zwangsläufig auch das Beste oder gar das Schönste.

Gegen diesen Lärm wirkt der Busch, voll mit Röschen, wie eine schöne leise duftende Geheimbotschaft am Weg.

Wir sind vertraut miteinander, diese Blume und ich. Ich habe sie oft schon gemalt, gezeichnet. Habe sie als Offenbarung einer Ordnung, die im Planungsbüro der Evolution über Jahrmillarden entworfen wurde, erkennen dürfen. Hartmut Warm hat sichtbar gemacht, dass vor allem Venus, Erde und natürlich die Sonne an dieser Kreation maßgeblich beteiligt sind: MASS GEBEND – im GOLDENEN SCHNITT. Diese schönen Sensoren von Kosmos und Erde, die wir Blüten nennen, kommunizieren direkt mit der Sonne, und strahlen ihre zarte Kraft ins Stadtgetriebe hinein. Ist der Stadt eigentlich klar, dass sie ohne solche schönen Ordnungen gar nicht so wummen und brummen könnte?

An Pfingsten spricht der Geist in vielen Zungen – auch mit herzförmigen Blütenblättern.

Hartmut Warm: Signatur der Sphären. Keplerstern Verlag.

Alfred Bast, KUNST KLOSTER art research Berlin, Pfingsten 2023